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Originalkompositionen für Player Piano - Klaviermusik ohne Grenzen

 

Die Anfänge

Technische und musikalische Möglichkeiten für Komponisten

         Nutzung der Klaviatur

         Geschwindigkeit

         Metren und Rhythmen

Donaueschingen in den zwanziger Jahren

Nancarrow entdeckt das Player Piano

Nancarrow und die Folgen

 

Atemberaubende Geschwindigkeiten, furiose chromatische Glissandi, monumentale Akkordgebilde unter Ausnutzung der gesamten Klaviatur, komplizierte Rhythmen und vielschichtige, z.T. irrationale Metren und Geschwindigkeiten, hingehauchte Klangwölkchen oder orkanartige Tonkaskaden - diese bislang unge(er)hörten Möglichkeiten eröffnet das zu Beginn unseres Jahrhunderts entwickelte Selbstspielklavier (Player Piano) einem experimentierfreudigen Komponisten. 

Die Anfänge

Die Geschichte der Originalkompositionen für Player Piano umfasst erst ca. 80 Jahre. Das Selbstspielklavier bietet über die Reproduktion "handgespielter" Klaviermusik hinaus für einen Komponisten vielfältige Möglichkeiten: bei der Realisierung seiner kompositorischen Ideen ist er nicht mehr von den manuellen Begrenzungen eines Pianisten abhängig. Der ungehinderte Zugriff auf die gesamte Klaviatur, rasende, unspielbare Geschwindigkeiten, komplizierte Metren und Rhythmen und die hohe Präzision eröffnen bislang ungeahnte Möglichkeiten und erlauben "unerhörte" Klangstrukturen. 

Darüber hinaus waren selbstspielende Instrumente für zwei musikalische Stilrichtungen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts geradezu prädestiniert: die Vertreter der "objektiven Musik" waren bestrebt, die Musik möglichst objektiv, d.h. frei von interpretatorischen Einwirkungen wiederzugeben. Als zweiter Stilrichtung kam der Maschinenmusik eine gewisse Bedeutung zu. Man erkannte die Schönheit einer Maschine und versuchte, die ihnen innewohnende Ästhetik auch musikalisch umzusetzen. 
Einer der ersten, der die Möglichkeiten des Selbstspielklaviers erkannte, war Igor Strawinsky, der 1917 die "Étude pour Pianola" schuf. 1921 schrieb der Musikkritiker Edward Evans an zwanzig Komponisten in England, Frankreich, Italien und Russland, erläuterte die umfassenden Möglichkeiten des Selbstspielklaviers und versuchte, Originalkompositionen für dieses Instrument anzuregen. Ergebnis dieser Aktivitäten waren u.a. "Tre Improvvisi per Pianola" von G.F.Malipiero und "Trois Pièces pour Pianola" von A.Casella. 

Um 1920 entwickelte sich in Deutschland eine Strömung, die der "Mechanisierung der Musik" das Wort redete. Man prophezeite den selbstspielenden Instrumenten und ihrer Musik eine große Zukunft. Es ist heute schwer nachvollziehbar, welche Bedeutung der mechanischen Musik in den Zwanzigerjahren beigemessen wurde. Die Firma Welte in Freiburg, Erfinder des Reproduktionsklaviers und Hersteller selbstspielender Orgeln und Orchestrien, gab mehreren Komponisten Gelegenheit, in den "Musikräumen" der Firma die Möglichkeiten selbstspielender Instrumente kennen zu lernen und Originalkompositionen auf Lochstreifen zu "zeichnen". Das Stanzen der Lochstreifen wurde dann von erfahrenen Mitarbeitern der Firma übernommen. 

 

Technische und musikalische Möglichkeiten für Komponisten 

Das pneumatische Selbstspielklavier verfügt über beträchtliche technische Möglichkeiten, die kein - auch noch so perfekter - Pianist erreichen kann. Der Komponist, der für das Selbstspielklavier als Wiedergabeinstrument schreibt, kann seine Werke ohne Rücksicht auf die anatomischen Gegebenheiten der Pianistenhände gestalten.
Dies zeigt ein Vergleich der Fähigkeiten eines Pianisten mit den Möglichkeiten eines Player Pianos:

Nutzung der Klaviatur

Ein Pianist kann ohne Hilfsmittel kaum mehr als zehn Töne mit einer Hand gleichzeitig anschlagen, die sich zudem noch innerhalb einer Dezime (= Spannweite der Hand) befinden müssen. Beim Selbstspielklavier können zur gleichen Zeit beliebig viele Töne in beliebigen Bereichen der Klaviatur angeschlagen werden. Eine Limitierung stellt lediglich die Leistung des Vakuumgebläses dar, die jedoch entsprechend erhöht werden kann. Alle grifftechnischen Beschränkungen, denen ein Pianist unterworfen ist, entfallen beim Selbstspielklavier. Tonsprünge können ohne Rücksicht auf pianistische Treffsicherheit perfekt reproduziert und z.B. problemlos 7 Oktaven gleichzeitig angeschlagen werden. Komplizierte Akkordglissandi oder vielstimmige Triller bereiten ebenso wenig Schwierigkeiten wie mehrstimmige chromatische Glissandi. Diese vielfältigen Möglichkeiten werden vorwiegend durch das Gebläse limitiert: so übersteigt z.B. der gleichzeitige Anschlag aller 83 Klaviertöne die Kapazität der Vakuumpumpe.

Geschwindigkeit

Ein geübter Pianist kann ca. 15 Töne pro Sekunde hintereinander spielen. Ein Player Piano hingegen bietet die Möglichkeit, 50, 100 oder gar 200 Anschläge pro Sekunde hintereinander anzuschlagen, d.h. Tonfolgen lassen sich mit "unspielbaren" Geschwindigkeiten realisieren. Man erhält völlig neue Klangmöglichkeiten, da das Auflösungsvermögen des Ohres überschritten wird und das Ohr bei diesen Geschwindigkeiten die Töne nicht mehr als Einzelereignisse wahrnehmen kann. 100 Anschläge pro Sekunde im Pianissimo werden als "Klangwölkchen" wahrgenommen, 100 Anschläge im Fortissimo erzeugen einen "Klangorkan". Auch kontinuierliche Geschwindigkeitsänderungen bzw. unterschiedliche Geschwindigkeiten in mehreren Stimmen lassen sich problemlos ausführen. Darüber hinaus können Tonfolgen mit hoher Gleichmäßigkeit des Anschlages erklingen, einer Gleichmäßigkeit, die von einem Pianisten - insbesondere bei rasenden Pianissimo-Läufen - kaum erreicht werden kann. Das Instrument verfügt weiterhin über eine erstaunliche Repetitionsfähigkeit, die nur durch die Gegebenheiten der Klavier- bzw. Flügelmechanik begrenzt ist. 

Ein weiterer Vorteil des Selbstspielklaviers liegt in dem Einhalten exakter Tempi. Die Notenrolle wird mit (nahezu) gleich bleibender Geschwindigkeit, die beliebig mit einem Hebel eingestellt werden kann, über den Gleitblock gezogen und pneumatisch abgetastet. Diese Grundgeschwindigkeit lässt sich bei jedem Abspielen der Notenrolle exakt reproduzieren. Die zeitliche Abfolge der Töne innerhalb der Grundgeschwindigkeit wird durch die Tonlochungen auf der Notenrolle eindeutig festgelegt.

Metren und Rhythmen

Ein Pianist kann gleichzeitig zwei verschiedene Metren spielen, wenn sie in einfachen Zahlenverhältnissen wie 2:3 oder 3:5 stehen. Bei komplizierten Zahlenverhältnissen stößt er genauso schnell an seine Grenzen wie bei der gleichzeitigen Wiedergabe von 3 oder mehr verschiedenen Metren. Ähnliches gilt für komplexe Rhythmen. Das Player Piano hingegen spielt die kompliziertesten Metren und Rhythmen mit absoluter Präzision, eine Möglichkeit, von der Nancarrow in reichem Maße Gebrauch gemacht hat. Vergleichbare Ergebnisse lassen sich z.Zt. nur mit einem Computer realisieren.

Auch bezüglich der Dynamik hat der Komponist viele Möglichkeiten: die meisten Instrumente verfügen entweder über eine stufenlose Dynamik von pp bis ff oder über eine Vielzahl diskreter Lautstärkestufen, was ebenfalls einem kontinuierlichen Lautstärkespektrum nahe kommt.  

Dennoch ist die Dynamik ein Schwachpunkt und das Festlegen exakter Lautstärken problematisch: die Lautstärke hängt von der Höhe des Vakuums ab, das man durch entsprechende Lochungen auf der Notenrolle steuern kann. Andererseits wird das Vakuum jedoch auch von der Anzahl der angeschlagenen Töne pro Zeiteinheit beeinflusst, da bei einer Vielzahl gespielter Töne das Vakuum abnimmt ("verbraucht" wird). Bis die Pumpe wieder ein ausreichendes Vakuum zur Verfügung stellt, kann bis zu einer Sekunde vergehen. Ein Komponist muss also berücksichtigen, dass die Lautstärke auch von der Anzahl der angeschlagenen Töne beeinflusst werden kann. Möglicherweise ist die schwierige Beherrschung der Dynamik mit ein Grund dafür, dass Nancarrow in seinen Studies for Player Piano vorwiegend Terrassendynamik benutzte. Sicherlich ist ein guter Interpret in der Verwendung dynamischer Variationsmöglichkeiten dem Selbstspielklavier überlegen. Ein Vorteil des letzteren besteht jedoch darin, dass eine einmal festgelegte Dynamik beliebig oft exakt reproduzierbar ist. 

 

Donaueschingen in den zwanziger Jahren

Hindemith beim Zeichen einer Player Piano-Rolle für Welte um 1926.

Am 16. Juli 1927 war ein Konzert der "Kammermusik-Aufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst" in Donaueschingen (Veranstaltungsort war damals vorübergehend Baden-Baden) ausschließlich Originalwerken für mechanische Instrumente, und zwar für mechanisches Klavier und mechanische Orgel, gewidmet. Neben der Fantasie in f-moll für eine Orgelwalze von W.A.Mozart wurden eine inzwischen verschollene Suite für mechanische Orgel von Paul Hindemith und eine Studie für mechanische Orgel von Ernst Toch aufgeführt. Nicolai Lopatnikoff schuf eine Toccata und ein Scherzo für mechanisches Klavier und Hans Haass war mit einer in irrwitzigem Tempo gespielten 6-stimmigen Fuge sowie einem Intermezzo vertreten. Von George Antheil kam der erste Teil des "Ballet mécanique", das ursprünglich für 16(!) selbstspielende Klaviere konzipiert war, zu Gehör. Die Aufführung der Urfassung für 16 Selbstspielklaviere scheiterte an Synchronisationsproblemen; deshalb begnügte man sich mit einem Selbstspielklavier. 

 

Nancarrow ‘entdeckt’ das Player Piano

Um 1930, mit der Verbreitung anderer, leistungsfähigerer und billigerer Musikreproduktionsverfahren (Schallplatte, Rundfunk, Tonfilm) gerieten die selbstspielenden Instrumente mehr und mehr in Vergessenheit, und sie wären sicher auch in der Versenkung geblieben, hätte da nicht ein recht eigenwilliger, aber dennoch genialer musikalischer Einsiedler in Mexico sein Lebenswerk dem "Player Piano" gewidmet: Conlon Nancarrow. Noch vor wenigen Jahren nur von einigen Insidern verehrt, gilt Nancarrow heute als einer der bedeutendsten Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts. In selbstgewählter musikalischer Isolation schuf er ein grandioses Werk für ein Instrument, das es eigentlich außerhalb der Museen gar nicht mehr gibt. Nancarrow erforschte systematisch die spezifischen Möglichkeiten des Selbstspielklaviers und benutzte sie konsequent in seinen Kompositionen:

  • Unabhängigkeit von den manuellen Begrenzungen eines Pianisten bezüglich Anzahl und Art der gleichzeitig spielbaren Töne - der Komponist kann ungehindert über die gesamte Klaviatur verfügen;
  • "unspielbare" Geschwindigkeiten bis 200 Anschlägen pro Sekunde;
  • komplizierte Metren und Rhythmen, die mit absoluter Präzision wiedergegeben werden

Nancarrow nahm somit die Möglichkeiten der Computermusik um Jahrzehnte vorweg. Diese "vorzeitige" Ausweitung der musikalischen Grenzen musste jedoch mit einem enormen Arbeitsaufwand erkauft werden: Die Stimmen einer Komposition mussten auf einem bis zu 20 Meter langen Papierstreifen auf den Bruchteil eines Millimeters genau konstruiert, aufgezeichnet und mit der gleichen Präzision mit einer Handstanzmaschine gelocht werden. Für eine Komposition von fünf Minuten Länge benötigte Nancarrow durchschnittlich ein Jahr. 

Es spricht für Nancarrows Konsequenz, dass er sich - nachdem er die Möglichkeiten eines Player Pianos ausgelotet hatte - den noch komplexeren Kompositionen für zwei Player Pianos zuwandte. Auch ließ er sich durch auftretende technische Schwierigkeiten nicht entmutigen - so gelang es ihm z.B. nicht, zwei über Lochstreifen gesteuerte Player Pianos exakt zu synchronisieren, was jedoch Voraussetzung zur präzisen Wiedergabe einiger "Studies for two Player Pianos" war. Mit Hilfe der Computertechnologie ist dies heute möglich, ohne die Originalinstrumente in wesentlichen Teilen zu verändern. Die Uraufführungen der Studies für zwei Player Pianos No. 40 und No. 48 fanden 1994 und 1996 anlässlich der Donaueschinger Musiktage statt. Das Gesamtwerk Nancarrows für Player Piano wurde erstmals in sieben Konzerten im Rahmen der MusikTriennale Köln 1997 aufgeführt.                         

 

Nancarrow und die Folgen

Nancarrows wegweisende Neuerungen konnten nicht ohne Folgen bleiben: 1964 schrieb James Tenney 'Music for Player Piano' und einen 'Spectral Canon for Conlon Nancarrow'. Carlos Sandoval aus Mexico, Caroline Wilkins aus England, Tom Johnson aus den USA (er lebt z.Z. in Paris) sowie Wolfgang Heisig aus Deutschland waren von den Möglichkeiten eines Selbstspielklaviers fasziniert und schufen Originalkompositionen. 

Einer der größten Verehrer und Fürsprecher Nancarrows ist György Ligeti er schrieb 1982 am einen Freund: 

Nachdem ich die Studies for Player Piano Nancarrows gehört habe, komme ich zu der festen Überzeugung, dass Nancarrow der größte lebende Komponist ist. Wäre Johann Sebastian Bach statt mit dem protestantischen Choral mit Blues, Boogie-Woogie und lateinamerikanischer Musik aufgewachsen, er hätte wie Nancarrow komponiert. Nancarrow - das ist eine Synthese amerikanischer Tradition, Bachscher Polyphonie und Strawinskyscher Eleganz - mehr noch, er ist der beste Komponist der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. 

Auch viele jüngere Komponisten waren fasziniert von Nancarrows Musik und sie versuchten, ihre musikalischen Ideen mit den Möglichkeiten des Player Pianos zu verwirklichen. Im Rahmen der MusikTriennale Köln 2000 wurden in drei Konzerten elf neue Kompositionen für Player Piano uraufgeführt: Werke von Michael Denhoff, Kiyoshi Furukawa, Georg Hajdu, Marc-André Hamelin, Wolfgang Heisig, Georg Kröll, Daniele Lombardi, Krzysztof Meyer, Steffen Schleiermacher, Daniel N. Seel und Gerhard Stäbler erklangen auf einem bzw. zwei Player Pianos. 

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