Conlon Nancarrow (nancarrow.de)
Geb. 27.10.1912 in Texarkana/Arkansas
(USA)
1929-1932: Erste Studien
am Konservatorium in Cincinnati
1933-1936: Studien am Malkin-Konservatorium
in Boston und Privatunterricht bei Walter Piston, Nicolas Slonimsky und
Roger Sessions
1937-1939: Kämpft als
Mitglied der Lincoln Brigade im spanischen Bürgerkrieg gegen das faschistische
Franco-Regime
1940: Emigration nach Mexico
1947: Erwerb eines Player
Pianos und Konstruktion einer Stanzmaschine
1981: Erste Reise in die
USA nach über 30 Jahren
1982: Erste Konzertreise
nach Europa zu Veranstaltungen in Hall, Köln und Paris. Ligeti moderiert
einige diese Konzerte
1987-1991: Mehrere Konzertreisen
in Europa (Köln, Berlin, Hannover, Hamburg, Wien, Paris) mit einem
Ampico-Bösendorfer-Selbstspielfügel
1997 starb Nancarrow in
Mexiko.

Conlon Nancarrow und Jürgen
Hocker bei der Vorbereitung einer Konzertreise,
Bergisch Gladbach 1989
Foto: Beatrix
Hocker
Conlon Nancarrow -
Ein Jahr Arbeit für 5 Minuten Musik...
Um 1930 gerieten die nach
der Jahrhundertwende so beliebten selbstspielenden Instrumente mehr und
mehr in Vergessenheit, und sie wären sicher auch in der Versenkung
geblieben, gäbe es da nicht einen recht eigenwilligen, aber dennoch
genialen musikalischen Einsiedler in Mexico, der sein Lebenswerk dem "Player
Piano" gewidmet hat: Conlon Nancarrow. Noch vor wenigen Jahren nur von
einigen Insidern verehrt, gilt Nancarrow heute als einer der bedeutendsten
Komponisten des 20.Jahrhunderts. In selbstgewählter musikalischer
Isolation schuf er ein grandioses Werk für ein Instrument, das es
eigentlich außerhalb der Museen gar nicht mehr gibt.
Nancarrow, der 1912 in Texarkana
in den USA geboren wurde, emigrierte 1940 nach seiner Teilnahme am spanischen
Bürgerkrieg nach Mexico, wo er noch heute völlig zurückgezogen
lebt. Schon seine frühen Werke zeichneten sich durch extreme Anforderungen
an die Interpreten aus, so dass sie kaum in einer für den Komponisten
befriedigenden Weise aufgeführt werden konnten. Deshalb sann er darüber
nach, wie er sich von den Unzulänglichkeiten eines Interpreten freimachen
könne: Er erwarb ein Player Piano, ließ sich eine Stanzmaschine
bauen, und er war seitdem unabhängig von den begrenzten manuellen
Möglichkeiten eines Pianisten.
In der Folgezeit komponierte
Nancarrow fast vier Jahrzehnte ausschließlich für das Selbstspielklavier.
Er bezeichnete diese Kompositionen als
Studies for Player Piano
und nummerierte sie. Die frühen "Studies" zeigen seine enge Beziehung
zum Jazz. Bald entwickelte Nancarrow jedoch seinen charakteristischen Stil:
er maß den Zeitverhältnissen zunehmend größere Bedeutung
bei. Tempo, Takt und Rhythmus dominieren über Melodik und Harmonik.
Der Aufbau seiner Kompositionen ist oft relativ einfach: er bevorzugt die
Kanon-Form. Dies gibt ihm die Möglichkeit, seine Zeitrelationen deutlicher
und auch für den ungeübten Hörer wahrnehmbar zum Ausdruck
zu bringen. Er erreicht hiermit eine Klarheit und Intensität der Darstellung,
die an die Fugen Bachs erinnert.
Typische Merkmale seiner
Werke sind schnelle Taktwechsel, unterschiedliche Taktmaße in verschiedenen
Stimmen, stufenweise bzw. kontinuierliche Tempoänderungen oder verschiedene
Tempi in mehreren Stimmen. Oft dient ein Ostinato als "Wegweiser" für
komplizierte zeitliche Abläufe. Die Folgerichtigkeit und die Konsequenz,
mit der Nancarrow neben Melodie und Harmonie die Zeit als dritte Dimension
nutzt, machen die singuläre Bedeutung dieses Komponisten aus. Es spricht
für den Genius Nancarrows, dass ihm trotz aller mathematischer
Konzeptionen noch genügend Freiheiten für lyrische oder rhapsodische
Passagen bleiben.
Nancarrow nahm somit die
Möglichkeiten der Computermusik um Jahrzehnte vorweg. Diese "vorzeitige"
Ausweitung der musikalischen Grenzen musste jedoch mit einem enormen
Arbeitsaufwand erkauft werden: Die Stimmen einer Komposition mussten
auf einem bis zu 20 Meter langen Papierstreifen auf den Bruchteil eines
Millimeters konstruiert und mit der gleichen Präzision mit einer Handstanzmaschine
gelocht werden. Für eine Komposition von fünf Minuten Länge
benötigt Nancarrow etwa ein Jahr. Es spricht für Nancarrows Konsequenz,
dass er sich - nachdem er die Möglichkeiten eines Player
Pianos ausgelotet hatte - den noch komplexeren Kompositionen für zwei
Player Pianos zuwandte, die zweifelsohne zu den grandiosesten Klavierkompositionen
des 20.Jahrhunderts zählen.
Einige ausgewählte
Studies:
Study
for Player Piano No. 10
Study No. 10 erinnert an
einen Blues - es ist die letzte seiner Kompositionen, die durchgängig
vom Jazz beeinflußt ist. Über einer Akkordfolge in der ‘linken
Hand’ erklingt eine Bluesmelodie. Trotz der rhythmischen Komplexität
ist dieses durchweg leise gehaltene Stück eine von Nancarrows eingängigsten
Werken.
Study
for Player Piano No. 20
Bis zur Study No. 19 verwendete
Nancarrow eine Stanzmaschine mit festem Vorschub, d.h. er konnte die Noten
nur in einem festgelegten Raster ähnlich einem Taktsystem stanzen.
Ab Study No. 20 benutzte er eine umgebaute Stanzmaschine, die es ihm ermöglichte,
die Noten so zu stanzen, dass sie zu jedem beliebigen Zeitpunkt erklingen
konnten. Study No. 20 ist eine achtstimmige Studie in Tonlängen, wobei
die Tonhöhen sehr nahe beieinander liegen. Durch Überlagerung
der einzelnen Stimmen ergibt sich ein komplexes Tongeflecht. Diese Komposition
lässt sich nicht mehr in konventioneller Notenschrift notieren.
Nancarrow benutzt für alle Töne Viertelnoten und zeigt die Tonlänge
durch einen Strich hinter dem Notenkopf an. Als György Ligeti erstmals
diese Study hörte, erkannte er sofort die Nähe zu seiner eigenen
Musik:
"Es war ein ganz merkwürdiges
Erlebnis. Ich höre ein Stück von Nancarrow, der nichts von meinen
Stücken wissen konnte. Seine Studie 20 ist so wahnsinnig ähnlich
zu meinem Stück ‘Monument’. Es ist fast dasselbe Stück mit einer
ganz bestimmten Art von Diatonik, allmählich sich aufbauende Schichten,
die sich gegenseitig verschieben, ich war zutiefst frappiert. Viel später,
als ich Nancarrow getroffen habe, habe ich ihm Monument vorgespielt und
er war auch total frappiert davon."
Study
for Player Piano No. 25
Diese Komposition gehört
zu Nancarrows mittlerer Schaffensperiode und er verwendet darin - im Gegensatz
zu seinen früheren und späteren Werken - keine Jazzelemente.
Obwohl sie kanonische Elemente mit Stimmen unterschiedlicher Geschwindigkeit
enthält, handelt es sich um keinen Kanon, sondern um eine rhapsodische
Form. Study 25 gehört zu den einfalls- und abwechslungsreichsten Kompositionen
Nancarrows. Arpeggierte Obertonreihen eröffnen das Werk, in dem alle
Möglichkeiten des Player Pianos genutzt werden. Rasende Tonfolgen
im Diskant im pianissimo erzeugen fein ziselierte Klangwölkchen von
nie gehörter Anmut. Einige Klangaggregate legen die Vermutung nahe,
dass Nancarrow beim Rollenzeichnen auch von graphischen Elementen
beeinflußt wurde. Auffallend ist der häufige Wechsel der Dynamik
sowie der Gebrauch des rechten Pedals. Das Stück endet mit einem Klangtornado,
der durch das Anschlagen von bis zu 200 Tönen pro Sekunde bei gehaltnem
rechten Pedal erzeugt wird.
Study
for Player Piano No. 33
Study No. 33 ist ein zweistimmiger
Kanon, wobei beide Stimmen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten laufen.
Das Geschwindigkeitsverhältnis beträgt Wurzel aus 2 zu 2 (1.414..../2).
Nancarrow benutzt hierbei erstmals eine ‘irrationale’ Geschwindigkeit,
d.h. die Schichten haben keinen gemeinsamen Nenner. Die unterschiedlichen
Geschwindigkeiten sind jedoch nicht auf die Stimmen fixiert - sie wechseln
vielmehr zwischen den Stimmen. Die führt dazu, dass beide Stimmen
gemeinsam beginnen und gemeinsam enden. Ruhig fortschreitende Akkordfolgen
bestimmen in weiten Teilen den Charakter der Komposition, die nur gegen
Ende lebhafter wird. Nancarrow hielt Study No. 33 für eine seiner
bedeutendsten Kompositionen, aber er meinte einmal: 33 is one of my
favorites, but no one else seems to agree with me. (33 ist eines meiner
Lieblingsstücke, aber niemand anders scheint mir zuzustimmen.)
Study
No. 40a for Player Piano
Bei diesem zweistimmigen
Kanon laufen die Stimmen im Verhältnis der Naturkonstanten pi (3,142....)
und e (2,718....). Die Komposition umfasst 2.500 Zeiteinheiten, die
von Nancarrow als Skala auf der Notenrolle aufgezeichnet wurden. Bei der
Einheit 341,5 setzt die zweite Stimme ein, um eine Dezime nach oben versetzt.
Ein häufiges Element sind Glissandi, die in dieser Studie ausschließlich
chromatisch verlaufen.
Study
No. 40b for two Player Pianos
Die Aufführung von
Nancarrows Kompositionen für zwei Selbstspielklaviere scheiterte bisher
daran, dass es nicht möglich war, konventionelle Instrumente
exakt zu synchronisieren. Abweichungen im Gleichlauf des pneumatisch betriebenen
Windmotors, der zum Antrieb der Notenrolle dient, sowie Abweichungen in
der Länge der Notenrolle infolge von Temperatur- und Feuchtigkeitsänderungen
führen zwangsläufig zu Zeitdifferenzen. Ein wesentliches Element
der Study 40b besteht jedoch darin, dass die Schlussakkorde beider
Klaviere zusammenfallen. Um dies zu erreichen, war eine neue, absolut präzise
Steuerung notwendig, die von dem Ingenieur Dr. Walter Tenten und dem Musikelektroniker
Horst Mohr entwickelt wurde. Dabei sollten jedoch die Player Pianos so
wenig wie möglich verändert werden, um die Originalität
der Wiedergabe nicht zu beeinträchtigen. Die Rolle des Gleitbocks,
der üblicherweise den Lochstreifen abliest, wird von 98 Elektromagneten
übernommen, die ihrerseits von einem Computer angesteuert werden.
Verfügen nun zwei Instrumente über einen analogen Steuermechanismus,
dann wird - die richtige Software vorausgesetzt - die Synchronisierung
möglich. Die Erstellung der Software erfolgte über einen von
Horst Mohr konstruierten Notenrollenleser, mit dessen Hilfe es möglich
ist, Notenrollen als Computerdaten zu speichern. Dieses Verfahren ermöglicht
eine exakte Steuerung, ohne weitere Veränderungen an den Instrumenten
vornehmen zu müssen.
Bei Study 40b spielen beide
Klaviere die gleiche Komposition (40a). Klavier eins beginnt, wobei die
Geschwindigkeit so einreguliert wird, dass die Study etwa 4 Minuten
und 20 Sekunden dauert. Klavier zwei folgt mit einer zeitlichen Verzögerung
von ca. 20 Sekunden in schnellerem Tempo, so dass diese Stimme nach
4 Minuten endet. Während zu Beginn des Stückes die beiden Klaviere
scheinbar unabhängig voneinander spielen, weil das "Erinnerungsvermögen"
des Ohres kürzer als 20 Sekunden ist, schreitet die Annäherung
während des Spiels der beiden Instrumente immer weiter fort, bis beide
Klaviere im Schlussakkord zusammenfallen.
Study
for Player Piano No. 46
Zu Beginn wird einstimmig
das thematische Material vorgestellt, unterbrochen jeweils durch Oktavklänge.
Nach und nach überlagern sich die Stimmen, wobei die meist im Stakkato
geführten Diskantstimmen den schwer schreitenden Legatostimmen, die
bis zu 5-fach oktaviert sind, gegenübergestellt werden. Im Mittelteil
folgt eine Sequenz, in der die Stimmen in unterschiedlicher Geschwindigkeit
geführt werden. Bemerkenswert auch die in absoluter Präzision
geführten übermenschlich schnellen Oktavparallelen.
Study
No. 49a
Hierbei handelt es sich
um einen dreistimmigen Canon, bei dem die Stimmen im Geschwindigkeitsverhältnis
4:5:6 geführt werden. Die erste Stimme beginnt mit einem rhythmisch
prägnanten, vom Jazz beeinflussten Thema. Es folgen nacheinander
die zweite und dritte Stimme, die nun der ersten Stimme mit höheren
Geschwindigkeiten nacheilen, und diese beim Schlusston, dem letzten
Ton eines 22-tönigen Arpeggios, einholen.
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